ADHS bei Kindern: Warnsignale, Ursachen und wie Eltern unterstützen können
Ihr Kind reagiert häufig impulsiv, hat Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und verhält sich unruhig bis hyperaktiv? Ein möglicher Grund dafür könnte ADHS sein, eine Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung. Davon sind in Deutschland rund 500.000 Kinder und Jugendliche betroffen – Jungs vier- bis fünfmal häufiger als Mädchen. Dr. Bettina Münster ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin am Sozialpädiatrischen Zentrum in Hamburg.
Sie betreut in einem interdisziplinären Team viele Kinder, die eine Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung haben, tauscht sich regelmäßig mit internationalen Kolleginnen und Kollegen aus und weiß, dass ADHS mehr ist als das Zappel-Philipp-Verhalten.
ADHS: Symptome und Ursachen
Liebe Frau Dr. Münster, was genau ist ADHS?
ADHS ist eine Störung der neuronalen Entwicklung eines Kindes. Die Störung kann im Nervensystem, im Gehirn oder ganz allgemein auf der Interaktionsebene auftreten. Tritt sie im Nervensystem auf, ist dort der Stoffwechsel von sogenannten Neurotransmittern als „Botschaftern zwischen den Nerven“ gestört. Startet die Krankheit im Gehirn, können Betroffene sich selbst schwer steuern oder kontrollieren. Die Krankheit kann im Nervensystem, dem Gehirn oder der allgemeinen Interaktionsebene entstehen. Tritt ADHS auf der Interaktionsebene auf, haben die Betroffenen Schwierigkeiten mit Bezugspersonen und mit sozialen Bindungen.
Wir wissen, dass sich Eltern Sorgen machen. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Schwierigkeiten Teil der ADHS sind und nicht bedeuten, dass betroffene Kinder weniger intelligent sind oder sich nicht genug anstrengen.
Wie kann es aussehen, wenn ein Kind die Fähigkeit verliert, sich zu kontrollieren und zu steuern?
Betroffene können zum Beispiel nicht in der Lage sein, eine Spannungssituation selbst zu regulieren und zu steuern. Sie agieren oft impulsgesteuert und können ihr Verhalten nicht ausreichend wahrnehmen oder beeinflussen. Diese Symptome werden aber oft erst dann wirklich als Krankheitszeichen wahrgenommen, wenn sie die Lebensführung beeinträchtigen und ein Leidensdruck entsteht.
Hängen die Störungen auf den genannten drei Ebenen miteinander zusammen?
In den meisten Fällen ja.
Kennt man die Ursachen für diese Störungen?
Die Erblichkeit liegt bei 70 bis 80 Prozent, während Umwelteinflüsse zu 20 bis 30 Prozent eine Rolle spielen. In den meisten Fällen ist ADHS also tatsächlich genetisch bedingt.
Die Kernsymptome wie Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität machen die Betroffenen zunehmend emotional instabil. Woran kann man das erkennen?
Wann sollte ich als Eltern denn hellhörig werden? Wo ist die Grenze zu dem, was vielleicht noch unter Temperament fallen könnte?
Die Alarmglocken sollten losgehen, wenn ein Kind in verschiedenen Lebensbereichen wirklich von der Spur abkommt. Wenn es Probleme im häuslichen Umfeld und in der Schule gibt, vielleicht auch bei Freizeitaktivitäten. Wenn viele der genannten Symptome sichtbar sind und dadurch eine Art Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Das passiert nicht über Nacht, meistens ist das ein schleichender Prozess.
Was würden Sie raten, wenn sich diese Dinge abzeichnen?
Dann würde ich zu einer Diagnostik raten. Dabei ist wichtig, dass die Bezugspersonen und die Lehrkräfte in der Schule mit einbezogen werden. Zusammen mit verschiedenen anderen Untersuchungen kann man dann eine Diagnose erstellen.
Diagnose von ADHS
Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche
Entwickelt sich mein Kind gesund und altersgerecht?
Was gehört zu einer Diagnostik, um ADHS festzustellen?
Es gibt keine standardisierte Methode, um ADHS festzustellen. Wir greifen auf verschiedene Methoden zurück. Zuerst prüfen wir psychologisch die kognitiven Leistungen. Wichtig sind Gespräche mit den Betroffenen und deren Angehörigen. Zudem untersuchen wir die Gene. Mit bildgebenden Verfahren wie EEG oder MRT schauen wir in die Körper hinein, um neurologische Erkrankungen auszuschließen.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Kinder?
Die Kinder bekommen bestimmte, standardisierte Aufgaben und wir schauen, wie sie sich damit beschäftigen. Das passiert nicht an einem Tag. Wir beobachten sie über einen längeren Zeitraum, um eine bestmögliche Diagnose zu treffen. Zusätzlich sind die Angaben aus der Familie und der Schule ganz wichtig. Wie verhält sich das Kind in Freizeit, im häuslichen Alltag und im schulischen Kontext? Um Vergleichswerte zu erhalten, bewegen wir uns entlang standardisierter Fragebögen.
Was genau können die betroffenen Kinder selbst zur Diagnose beitragen?
Die Frage ist, ob das Kind selbst merkt, dass es durch sein unruhiges oder impulsives Verhalten in Situationen kommt, in denen andere Kinder sich von ihm abwenden. Größere Kinder sagen auch oft: „Ich sitze im Unterricht und meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Ich bin dann nicht bei der Sache und krieg‘ das meiste nicht mit.“ Aus diesen vielen Informationen, den Gesprächen in Selbst- und Fremdeinschätzung und anderen Untersuchungen ergibt sich für uns im Ärzte- und Psychologenteam eine Einschätzung, die sehr vielschichtig ausfallen kann.
Wie alt sind denn Ihre jüngsten Patienten?
In manchen Fällen zeigen sich zum Teil schon im Kindergartenalter erste Auffälligkeiten. Verstärkt bemerken wir die Störung bei Kindern im Schulalter. Deshalb sind die Therapiekonzepte auf Kinder ab sechs Jahren ausgerichtet. Bei Jugendlichen kommen noch andere Ausprägungen dazu, da sie dann in die Pubertät kommen. Zum Beispiel tritt bei ihnen häufig ein sehr starkes Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit auf – verbunden mit oft grenzüberschreitendem Verhalten, Impulsivität und Aggressivität in stärkerer Form als in jüngerem Alter. Bei den Grundschülern dagegen stehen die Unaufmerksamkeit und die motorische Unruhe im Vordergrund.
Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?
Die Symptome sind sehr ähnlich. Aber die Jungs sind tatsächlich vier bis fünfmal häufiger betroffen als die Mädchen. Woran das liegt, können wir nach aktuellem Forschungsstand noch nicht sagen.
Risikofaktoren und äußere Einflüsse
Vorhin hatten Sie Umwelteinflüsse erwähnt, die auch eine Rolle bei der Entstehung von ADHS spielen. Was genau meinen Sie damit?
Beeinflusst die Eltern-Kind-Bindung die Störung?
Defizitäre Eltern-Säuglings- oder Eltern-Kind-Interaktionen können dafür sorgen, dass ein Kind keine Bindung erfahren hat. Das kann ADHS bedingen. Familiäre Aspekte wie psychosoziale Belastungsfaktoren, Stress, Sucht, Misshandlungen sowie Spannungen in der Familie können ADHS verstärken. Liegt eine genetische Disposition vor, können die genannten Faktoren das Krankheitsbild begünstigen.
Bedeutet das, dass eine enge Eltern-Kind-Beziehung ADHS beeinflusst?
Ja. Eine positive, enge, zugewandte und liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind kann die Entstehung von ADHS beim Kind unterdrücken. Das hat also einen enormen Einfluss, ob sich die Störung bahnbricht und wenn ja, wie stark.
Inwieweit spielt Medienkonsum eine Rolle?
Spielt die Häufigkeit der Mediennutzung eine Rolle – oder eher die Qualität der Formate? Schließlich gibt es tolle kindgerechte Sendungen…
Die Qualität ist auf jeden Fall ein sehr wichtiger Faktor. Alles, was mit hoher Geschwindigkeit oder Darstellung von Gewalt zu tun hat, ist schädlich. Immer wieder berichten Eltern unserer Patienten, wie sehr ihre Kinder von bestimmten Inhalten regelrecht in den Bann gezogen werden.
Und was sollten Eltern dann tun?
Behandlung von ADHS
Wenn eine gewisse Ausprägung von ADHS diagnostisch festgestellt wurde: Wie kann man diese Störung behandeln? Das bekannte Ritalin verschreiben?
Nun, es gibt noch eine Reihe anderer Möglichkeiten. Nachdem wir wissen, was das Kind selbst leisten und schaffen kann, kombinieren wir verschiedene Therapiekonzepte. Zunächst geht es um Psychoedukation. Das heißt, wir klären die Eltern und je nach Alter auch das Kind über das Krankheitsbild auf. Wir vermitteln, wie sie mit ADHS am besten umgehen. Bei geringer und mittlerer Ausprägung und bei Kindern unter sechs Jahren starten wir mit der patientenzentrierten Verhaltenstherapie. Oft begleitet eine solche Verhaltenstherapie auch die medikamentöse Therapie.
Was lernt man bei einer Verhaltenstherapie?
Im Vorschulalter möchte man dabei die Spielintensität und Spieldauer verbessern, tragfähige Interaktionsmuster mit verhaltensregulierenden Elementen aufbauen und Wahrnehmung für soziale Situationen fördern, zudem Handlungen strukturiert planen und ausführen üben.
Und wenn die Kinder in die Schule kommen? Welche Schwerpunkte setzt die Medizin dann?
Dafür gibt es ausgefeilte Konzepte. Das braucht auch viel Zeit. Im Schulalter liegt der Schwerpunkt auf organisatorischen Fähigkeiten, also Selbstmanagement. Was muss ich dabeihaben? Wie organisiere ich meinen Schultag? Was muss ich für diese Aufgabe machen?
Welche Rolle spielt dabei die soziale Kompetenz?
Eine große. Denn hier beginnen meist die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten durch Impulsivität und Hyperaktivität. Außerdem stärken wir das Arbeitsgedächtnis. Darüber hinaus lernen die Kinder, spontane Impulse zu unterdrücken und zu regulieren, Störreize auszublenden und damit die Aufmerksamkeit besser zu lenken. Auch die kognitive Flexibilität wird gefördert. Die Kinder lernen also, wie man sich schneller mit neuen Situationen vertraut macht.
Neben der verbesserten Selbstkontrolle – was lernen die Kinder noch?
Die Kinder lernen, sich selbst besser wahrzunehmen. Um sie dabei zu unterstützen, geben wir ihnen Fragen zum Selbstbeantworten an die Hand: Was passiert eigentlich in mir, wenn ich diesen Effekt spüre? Was mach ich, wenn mir der Kopf schwirrt? Wie kann ich mich selbst regulieren? Es sind ganz viele verschiedene Inhalte, die vermittelt werden. Und das funktioniert wirklich gut und hilft oft.
Gibt es denn Fälle, bei denen die Tipps und ärztlichen Ratschläge so gut gelernt wurden, dass man die Symptomatik im Griff hat?
Ja, solche Fälle gibt es, sie sind aber nicht die Regel. Meist können die Therapeuten einschätzen, ob bestimmte Verhaltensmuster und Verhaltensregeln erlernt worden sind. Manchmal geht es über die kognitive Ebene, über die viel kompensiert wird. Aber das ist ein langer Prozess und kann Jahre dauern.
Wie erklären Sie kleineren Kindern, was mit ihnen los ist?
Über das Umfeld, also die Eltern, Betreuer und Lehrer. Es ist ganz wichtig, über eine spielerische Umstellung den Kindern Sicherheit und Orientierung zu vermitteln.
Ist auch mindestens ein Elternteil selbst betroffen, wird das enorm schwierig, oder?
Deshalb ist es wichtig, dass sich diese Betroffenen aus der Familie mit behandeln lassen. Ganz oft bekommen beispielsweise Eltern erst über ihre Kinder den Anstoß, sich selbst auch diagnostizieren und therapieren zu lassen. Wir beobachten manchmal, dass Eltern zwar Anzeichen bei sich bemerken, aber den tatsächlichen Auslöser für eine Behandlung liefern die Kinder.
Medikamente bei ADHS
Wenn Gespräche und Verhaltenstherapien nicht reichen, greift man häufig auf Medikamente zurück. Sollen sie den Dopaminhaushalt normalisieren?
Ja. Wir setzen sie bei einem hohen Schweregrad ein, als nächste Instanz oder auch begleitend zur Verhaltenstherapie. Das sind in erster Linie Medikamente, die die Signalübertragungen durch Neurotransmitter wie Dopamin verbessern. Vor der Medikamentenerprobung führen wir leitliniengerechte Untersuchungen wie beispielsweise eine Laboruntersuchung und ein EKG durch, um pathologische organische Befunde auszuschließen.
Wir sehen oft nach individueller Einstellung eine schnelle und befriedigende Wirkung. Es gibt aber auch jene Fälle, bei denen Medikamente nicht den erwünschten Erfolg bieten. So sollte mit psychologischer und medizinischer Begleitung nach effektiven therapeutischen Alternativen gesucht werden, die dem betreffenden Kind individuell gerecht werden.
Verschwinden die ADHS-Symptome bei Kindern, die ein entsprechendes Medikament nehmen?
Davon kann man nicht immer ausgehen. Es hilft vielen Kindern, sich in Schule und Alltag besser zu fühlen und sich besser zu konzentrieren. Sie bekommen einen besseren Zugang zu ihren Mitschülern und zeigen eine größere Arbeits- und Anstrengungsbereitschaft, die den Schülern eine bessere Teilhabe im schulischen Alltag ermöglicht.
Es gibt diese Medikamente in retardierter und unretardierter Form. Bei den unretadierten hält die Wirkung ungefähr vier Stunden an und dann kann man – zum Beispiel nachmittags – nochmals eine Dosis nehmen. Retardierte Medikamente geben ihren Wirkstoff nach der Einnahme langsam ab.
Dann können Kinder diese Medikamente bedarfsgerecht nehmen, wenn beispielsweise eine Mathearbeit ansteht? Können sie dafür in den Ferien auch mal aussetzen?
Ja, das kann man machen. Viele Patienten nehmen die Medikamente in der Schulzeit und setzen an den Wochenenden und den Ferien aus. Es sollte immer ein individuelles Konzept geben, engmaschig begleitet von den Ärzten. Es ist auch unbedingt sinnvoll, immer wieder Auslassversuche zu ermöglichen, um zu schauen, wie es den Betroffenen ohne Medikation geht.
Tipps für Eltern und den Familienalltag
Was kann ich denn als Eltern tun, wenn mein Kind an ADHS leidet?
Die wichtigste Maßnahme ist eine gezielte Behandlung der ADHS-Symptomatik oder auch anderer psychischer Erkrankungen der Eltern, damit der Alltag funktionieren kann. Elterntraining ist ein weiterer Stichpunkt. Fachkräfte vermitteln Eltern wirksame Erziehungsstrategien, sowohl im ambulanten als auch im stationären Setting.
Gute Tipps für eine mittel- bis langfristige Perspektive. Was machen Eltern, deren Kind jetzt ausbricht? Gibt es kleine Dinge, die man machen kann, um Situationen zu verbessern und das Kind ein stückweit einzufangen?
Im Alltag ist eine hochwertige Eltern-Kind-Interaktion unglaublich wichtig. Liebevolle Regeln und Grenzen und das Etablieren von Strukturen im Familienleben zählen dazu. Es sollte vertraute Alltagsabläufe geben. Eltern sollten versuchen, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken. Es geht einfach um eine liebevolle Beziehung zu und Beschäftigung mit dem Kind: mit ihm sprechen, mit ihm spielen, viele gemeinsame Aktionen, bei denen sich das Kind gut aufgehoben und verstanden fühlt. Die Wertschätzung von Bezugspersonen ist enorm wichtig. Das Kind sollte sich verstanden und geliebt fühlen.
Eine letzte Frage: Wir wissen nun, dass ADHS große Probleme mit sich bringen kann. Gibt es aber auch eine gute Seite?
Ja, die gibt es auf alle Fälle. Wenn die individuellen Ressourcen der betroffenen Kinder gestärkt werden (z.B. über Sport, Musik oder Leistungen in der Schule), kann das Selbstwertgefühl in die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten gesteigert und positive soziale Kontakte erschlossen werden. Diese Kinder können ihre Symptomatik so meist besser regulieren.
Frau Dr. Münster, herzlichen Dank für dieses sehr informative Gespräch.