Zu viel zu tun im Job: Interview mit Resilienz-Expertin
Personalmangel ist in vielen Branchen ein wachsendes Problem. Es stellt Arbeitgeber und Mitarbeitende vor neue Herausforderungen: Arbeitsverdichtung für die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen, Überstunden. Die Folgen: erschöpfte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie vermehrte Arbeitsunfähigkeiten – ein Teufelskreis.
Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) kann ein Beitrag zur Entlastung leisten. Wie es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärkt und was Arbeitgeber tun können, erklärt Sandra Schmidt, Resilienz- und BGM-Expertin bei der DAK-Gesundheit.
Was ist Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)?
Sandra Schmidt: "BGM ist ein (Management-)Prozess, bei dem systematisch und idealerweise mit allen Beteiligten im Betrieb oder im Unternehmen zunächst analysiert wird: Was sind unsere Problemstellungen in Bezug auf das Wohlbefinden bei der Arbeit? Wodurch entsteht Stress, was ist körperlich belastend? Parallel sollte das notwendige Vertrauen und ein gutes kommunikatives Miteinander entwickelt werden, damit Problemstellungen offen und konstruktiv angesprochen und behandelt werden können. Das kann zum Beispiel im ersten Schritt durch besondere Schutzmaßnahmen – beispielsweise Verschwiegenheitsregelungen in einer Gruppendiskussion – passieren. Die Analyse kann durch eine Mitarbeitenden-Befragung geschehen, in Gruppendiskussionen oder etwa bei Arbeitsplatzbegehungen. Je nach Größe des Betriebes sind hier verschiedene Analyse-Verfahren sinnvoll. Im nächsten Schritt werden Maßnahmen gewählt, von denen Abhilfe erwartet wird. Zielführend sind zunächst Maßnahmen, die sich um die Themen Führung, Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen und Kulturen drehen.
Viele Unternehmen sind sich bewusst, wie wichtig die Gesundheit der Beschäftigten ist. Gleichzeitig fehlt es oft an Wissen, was das Unternehmen tun kann, um die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Einseitig auf das Verhalten der Beschäftigten ausgerichtete Angebote (Verhaltensprävention) können ins Leere laufen, wenn bei den Mitarbeitenden der Eindruck entsteht, dass es allein in ihrer Verantwortung liegt, sich an verschärfte Arbeitsbedingungen anzupassen. Damit die Angebote auch genutzt werden, muss sich eine Vertrauenskultur zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden entwickeln. Es ist wichtig, die gesundheitsförderliche Organisation der Arbeit ganzheitlich in den Blick zu nehmen und die Beschäftigten einzubinden (Verhältnisprävention), damit die Angebote auch wirklich Entlastung an den richtigen Stellen schaffen."
Wie wird BGM konkret umgesetzt?
Sandra Schmidt: "Es gibt verschiedene Wege, die Situation im Betrieb zu analysieren und dabei die wichtigsten Baustellen ausfindig zu machen: von großangelegten Mitarbeitenden-Befragungen bis zu kleinen Dialoggruppen direkt mit Mitarbeitenden, mit Führungskräften oder ohne. Bei der Auswahl oder Entwicklung von Maßnahmen ist es ebenso: Zum Beispiel können kleinere Gruppen Lösungen für die betriebs- oder auch teamspezifische Arbeitsorganisation entwickeln. Daneben gibt es eine breite Palette von Angeboten, wie beispielsweise Teamentwicklungs-Seminare ("Wie können wir am besten zusammenarbeiten?"), Vorträge oder Seminare für Führungskräfte ("Wie führe ich mein Team gesundheitsförderlich, wertschätzend und so, dass alle gut arbeiten können?") oder Vorträge / Seminare für Mitarbeitende, (z.B. Selbstbehauptung: "Wie grenze ich mich konstruktiv ab, um fokussiert an meinen Aufgaben arbeiten zu können?") bis hin zu Kursen oder Seminaren etwa zu Entspannungstechniken oder zur Vorbereitung von gesunden Pausen-Snacks. Letztlich ist aber entscheidend, dass Mitarbeitende in die Analyse und Lösungsentwicklung eingebunden werden, damit entsprechende Maßnahmen bedarfsgerecht gestaltet werden und sinnvoll in die Realität umgesetzt werden können: Es geht darum, gemeinsam nach individuellen Lösungen für den jeweiligen Betrieb zu suchen.
Nach einem festgelegten Zeitraum wird zurückgeblickt und beurteilt: Haben uns die Maßnahmen weitergebracht – oder brauchen wir andere Maßnahmen? Oder brauchen wir diese Maßnahmen und sie haben aus anderen Gründen nicht zum Erfolg geführt? Damit geht es dann erneut in die Maßnahmenplanung oder auch -anpassung."
Wer hat Anspruch auf Betriebliches Gesundheitsmanagement?
Sandra Schmidt: "Betreiebliche Gesundheitsförderung ist - im Gegensatz zum Arbeitsschutz oder beim Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM), eine freiwillige Leistung des Arbeitgebers.
Allerdings: Wohlbefinden und Wertschätzung von Mitarbeitenden ist kein Luxus für gute Zeiten, sondern Grundlage für gemeinsame Produktivität, vorausschauende Planung, effiziente Zusammenarbeit und Bindung von Mitarbeitenden an ein Unternehmen. In Anbetracht des bereits gravierenden Personalmangels, der bis 2030 noch drastisch steigen wird, weil dann die so genannte „Baby Boomer“-Generation in Rente geht, sind dies gute Gründe, in BGM zu investieren. Und zwar nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Offenheit für neue Wege. Wenn Ihr Arbeitgeber kein BGM anbietet, bleibt unser offenes Angebot auf unserer BGM-Website: Hier kann man zumindest jede Menge Tipps in Vorträgen bekommen, wie man sich durch gesundheitlich sinnvolles Verhalten stärken kann."
Ist BGM gesetzlich vorgeschrieben?
Präventionsangebote zur Entspannung, Ernährung und Bewegung
Sandra Schmidt: "Die Krankenkassen haben den gesetzlichen Auftrag, Unternehmen zu beraten, zu begleiten und auch mit verschiedenen Mitteln zu fördern. Allerdings können die Kassen selbst Schwerpunkte wählen, in denen sie arbeiten, und danach kann sich die Auswahl der Unternehmen und Projekte richten, die gefördert werden. Eine Besonderheit stellt die Pflege-Branche dar: Um der besonderen Personalnot in Einrichtungen der Pflege und Pflegediensten zumindest etwas entgegenzusetzen, wurde hier unter anderem mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz zum 1. Januar 2019 ein besonderes Budget für Betriebliche Gesundheitsförderung in der Pflege eingesetzt. Alle Teilbranchen der Pflege sollen ganz besonders gefördert werden. Allerdings hat auch hier der einzelne Betrieb (Krankenhaus, Einrichtung oder Pflegedienst) keinen direkten Anspruch auf Förderung durch eine Kasse. Allerdings haben auch hier die Krankenkassen die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen und je nach Kapazität Einrichtungen und Projekte auszuwählen, die sie unterstützen.
Wenn Ihr Arbeitgeber kein BGM anbietet, bleibt unser offenes Angebot auf unserer BGM-Website: Hier kann man zumindest jede Menge Tipps in Vorträgen bekommen, wie man sich durch gesundheitlich sinnvolles Verhalten stärken kann."
Welche Voraussetzungen muss ein Arbeitsgeber erfüllen, um BGM anbieten zu können?
Sandra Schmidt: "Die Unternehmensleitung muss bereit sein für Veränderungen, dafür, die Beschäftigten hier einzubeziehen und damit auch Zeit, Personen und Räumlichkeiten für das BGM zu stellen, denn Maßnahmen des BGMs sollten am besten in der Arbeitszeit stattfinden, damit Beschäftigte ausreichend motiviert sind, daran teilzunehmen."
Welche Kosten entstehen für Arbeitnehmende, die BGM in Anspruch nehmen?
Sandra Schmidt: "Für Arbeitnehmende entstehen keine Kosten."
Kann jedes Unternehmen BGM anbieten?
Sandra Schmidt: "Im Prinzip ja, Engagement vorausgesetzt. Allerdings ist es oft schwierig, für kleinere Unternehmen etwas anzubieten, weil hier oft Zeit und Personal noch knapper bemessen sind und weil bestimmte Gruppengrößen für Maßnahmen nicht zustande kommen. Allerdings können sich Unternehmen mit anderen zusammenschließen, beispielsweise regional. Dann lassen sich Maßnahmen gebündelt anbieten – wie zum Beispiel, gemeinsam eine gute Verpflegung bei der Arbeit auf die Beine zu stellen. Oder ein Unternehmen schließt sich einem Branchen-Netzwerk an, um sich zu branchenspezifischen Herausforderungen auszutauschen, beispielsweise zu ungünstigen Arbeitszeiten. Hier können wiederum gemeinsam Lösungen entwickelt werden. Die Kassen können und sollen Netzwerke beraten."
Wie können Beschäftigte darauf hinwirken, dass BGM im Betrieb eingeführt wird?
Sandra Schmidt: "Zunächst kann man sich zum Beispiel an die Personalabteilung wenden oder an den Betriebsrat / die Personalvertretung. Eventuell gibt es sogar bereits Bestrebungen, ein BGM aufzubauen. Nicht selten wissen viele Mitarbeitende davon gar nichts. Letztlich muss auf jeden Fall die Unternehmensleitung davon überzeugt sein oder auch werden, dass BGM sinnvoll ist. Denn ohne ihre Unterstützung versanden alle Bemühungen. Es kann aber hilfreich sein, wenn Mitarbeitende für den Anfang zu einer im Betrieb bekannten, am besten nicht heiklen Problematik einmal bei den genannten Stellen vorschlagen, hier Beratung durch die Krankenkassen anzufragen.
Beschäftigte können das BGM gut unterstützen, indem jemand aus der Belegschaft zur BGM-Managerin oder zum BGM-Manager ausgebildet werden. Wir als Kasse bieten über unsere Partner diese Ausbildung ebenfalls an. Voraussetzung ist zunächst einmal Interesse am Thema. Vorkenntnisse sind hilfreich, aber nicht zwingend. Wer jeweils die Ausbildung am besten absolvieren sollte, muss jedoch im Betrieb entschieden werden. Hier sollte möglichst jemand gewählt werden, der oder die zu vielen Mitarbeitenden in gutem Kontakt steht und Vertrauen genießt."
Sandra Schmidt
BGM-Expertin bei der DAK-Gesundheit