Sexsucht erkennen und behandeln - Interview mit Sexualtherapeut Umut Özdemir
Was ist Sexsucht?
Was sind Symptome einer Sexsucht?
Umut Özdemir: „Die Diagnose einer zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung wird vergeben, wenn Betroffene seit mindestens sechs Monaten einen sehr starken Drang verspüren, sich sexuell zu befriedigen (alleine oder mit anderen) und den Eindruck haben, dass sie sich diesem Drang nicht widersetzen können. Hinzu kommt, dass dadurch der Alltag eingeschränkt wird. Beispielsweise gehen Betroffene immer wieder auf der Arbeit auf die Toilette, um sich selbst zu befriedigen oder haben Schwierigkeiten einen Abend im Freundeskreis zu verbringen, weil sie ständig an Sex denken und ihn ausüben müssen. Das sexuelle Verhalten muss also negative Konsequenzen für das Leben haben. Dadurch entsteht oft Leidensdruck.
Diese Problematik ist abzugrenzen von einer ersten Verknalltheit. Es ist absolut zu erwarten, dass man als frisch Verliebte mehr Lust auf Sex hat und miteinander körperlich intim werden möchte – ein zentraler Unterschied ist, dass frisch Verliebte es schön finden, miteinander Sex zu haben, während Betroffene der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung durchaus berichten, dass sie keine Befriedigung mehr erleben durch den Orgasmus, sondern wie getrieben seien und eine Art To-do abhaken müssten."
Wie entsteht eine Sexsucht?
Umut Özdemir: „Die Entstehungsmechanismen der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung sind uns noch unklar. Bei allen psychischen Diagnosen gehen wir von einer bio-psycho-sozialen Entstehung aus. Das heißt: Es gibt biologische, psychische und soziale Faktoren, die zusammenwirken und man dadurch in einen pathologischen Bereich rutscht und die Diagnose sich ausbildet. Wir wissen, dass zum Beispiel Testosteron dafür sorgen kann, dass der Wunsch nach Sex oder Orgasmen dranghafter wird. Hinzu kommt, dass bei Orgasmen Botenstoffe im Gehirn ausgelöst werden, die dazu führen, dass wir uns besser fühlen (biologische Faktoren). Für manche Menschen ist dieses ,sich besser fühlen durch Orgasmen' zu einer Strategie geworden (psychischer Faktor), um mit belastenden Ereignissen oder Stress auf Arbeit umzugehen oder aber auch, um sich zu belohnen für Tage, an denen man viel geleistet hat (soziale Faktoren). Mit der Zeit kann sich dieses Verhalten einschleichen und automatisieren und im schlimmsten Fall verselbstständigen bis man gefühlt die Kontrolle verliert. Betroffene bestimmen nicht mehr über ihr Sexualverhalten, sondern das Sexualverhalten scheint über das Leben der Betroffenen zu bestimmen."
Wie viele Menschen sind von Sexsucht betroffen?
Umut Özdemir ist Psychologe und Psychotherapeut. Er studierte Psychologie und spezialisierte sich anschließend auf Sexualität. Als Paartherapeut begleitet er Paare in eigener Praxis, hält Vorträge, schreibt Bücher ("Leichter lieben: Weil Beziehung auch einfach geht") und bei Doktorsex ergänzt er die Aufklärungsarbeit von Urologe Volker Wittkamp und Gynäkologin Dr. Sheila de Liz.
Sexsucht – so werden Betroffene behandelt
Wissenschaftlich viel versprechende Ansätze zielen jedoch auf eine anfängliche Abstinenz von Pornografie (falls diese eine Rolle spielt) oder des ausufernden Sexualverhaltens, auf die Behandlung begünstigender Faktoren des problematischen Verhaltens (zum Beispiel Einstellungen wie ,Orgasmen sind eine gute Möglichkeit, um negative Gefühle zu neutralisieren'), auf die Veränderung von Umweltfaktoren (zum Beispiel: falls zutreffend, ,Wie kann man Arbeitsstress reduzieren oder partnerschaftliche Probleme reduzieren?') sowie dem Erlernen von bewusster Selbstbefriedigung oder Sex mit anderen. In manchen Fällen können auch Medikamente, um zum Beispiel die Wirkung von Testosteron zu senken, hilfreich sein und zum Einsatz kommen (Stark & Wehrum-Osinsky, 2016)."
Woran erkenne ich, dass ich sexsüchtig bin?
Es könnte sein, dass Sie ein problematisches Verhältnis zu Sex haben, je mehr der folgenden Fragen Sie mit „Ja“ beantworten:
- Haben Sie den Eindruck, ihre Gedanken kreisen viel um Sex?
- Nutzen Sie regelmäßig Sex (inklusive Selbstbefriedigung), um Stress und Druck abzubauen?
- Verbringen Sie viel Zeit damit Sex und/oder Pornos zu suchen und auszuleben/anzuschauen?
- Üben Sie Ihr sexuelles Verhalten aus, obwohl Sie keine positiven Gefühle dabei verspüren?
- Vernachlässigen Sie Arbeit/den Freundeskreis /Haushalt/persönliche Hygiene, zugunsten von Sex?
Hilfe für Betroffene
Ich bin sexsüchtig! Was kann ich tun?
Umut Özdemir: „Es gibt Anlaufstellen, die je nach persönlicher Präferenz in Frage kommen könnten: Online sind (oft anonyme) Selbsthilfegruppen sowie christliche oder konfessionsfreie Beratungsstellen in Ihrer Stadt oder in Ihrer Nähe zu finden. Wichtig ist hierbei, dass Betroffene einschätzen sollten, ob sie hinter der Logik des Programms stehen und sich nicht zu etwas zwingen, was nicht ihnen selbst entspricht beziehungsweise unlogisch erscheint. Das gilt auch für psychotherapeutische Behandlungen."
DAK Fachbereich
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