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Selbstverletzung bei Jugendlichen: Wenn die Gefühle außer Kontrolle geraten

Symbolbild Selbstverletzung Jugendliche: Trauriges Mädchen sitzt im Park

Ritzen, verbrennen, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen: Es ist nur verständlich, dass Eltern in Angst und Sorge geraten, wenn ihre Kinder sich absichtlich selbst verletzen. Doch was steckt eigentlich hinter diesem gar nicht so seltenen Verhalten, warum sind Jugendliche in der Pubertät besonders anfällig dafür, wie gefährlich ist es und wann sollte man sich Hilfe vom Profi holen?

Was ist selbstverletzendes Verhalten?

Experten verstehen darunter jede absichtliche Schädigung der Körperoberfläche. Sogenannte Körper-Modifizierungen (Body Modifications) wie Tattoos, Piercings, Brandings und Schmucknarben zählen aus wissenschaftlicher Sicht allerdings nicht dazu. Mediziner unterscheiden bei den Selbstverletzungen zwischen solchen mit der Absicht, sich dadurch selbst zu töten (suizidales Verhalten) und denen, sich nicht selbst umzubringen zu wollen (nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten).

Ein klassisches suizidales Verhalten wäre etwa der Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden, das eher oberflächliche Ritzen auf der Oberseite der Unterarme dagegen ein nicht-suizidales Verhalten. Die Grenzen dazwischen sind allerdings fließend. So gibt es Jugendliche, die mit nicht-suizidalen Verletzungen starten und später einen Selbstmordversuch unternehmen. “Mehr als 50 Prozent aller Jugendlichen, die sich selbst verletzten, haben zumindest Suizid-Gedanken. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese auch immer in die Tat umgesetzt werden“, erklärt Professor Dr. Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern. 

Wie häufig sind Ritzen, Verbrennen & Co.?

Selbstverletzungen bei Jugendlichen sind kein seltenes Phänomen. Etwa 25 bis 35 Prozent aller Kids zwischen 12 und 17 Jahren haben schon einmal damit Erfahrungen gemacht. Ab dem 18. Lebensjahr treten Selbstverletzungen mit rund fünf Prozent Anteil deutlich seltener auf. Junge Mädchen verletzten sich etwas häufiger als männliche Jugendliche. Sehr junge Kinder fügen sich nur selten freiwillig Verletzungen zu, die meisten von ihnen haben Gewalt oder wenig Zuneigung erfahren. Michael Kaess: „Die allermeisten Jugendlichen verletzten sich ein- oder zweimal und hören dann auf. Andere machen das jedoch auch über eine längere Zeit.“ 

Welche Arten von Selbstverletzungen gibt es?

Mit Abstand am häufigsten ist das Ritzen. Dabei fügen sich Jugendliche Hautschnitte mit Messern, Rasierklingen, Scheren oder auch einfach mit einem Blatt Papier zu. An zweiter Stelle stehen Verbrennungen, häufig durch das Ausdrücken einer brennenden Zigarette auf der Haut, manchmal auch durch heißes Wasser oder durch Deospray, das in sehr kurzem Abstand sehr lange auf die Haut gesprüht wird. Zu den dritthäufigsten Verletzungen zählt es, Körperteile auf harte Gegenstände zu schlagen. „Während sich junge Frauen meist ritzen, wählen männliche Jugendliche eher andere Formen wie das Schlagen mit der Faust oder sogar mit dem Kopf gegen die Wand“, so Kaess. Meist werden Arme, Handgelenke und Oberschenkel verletzt, seltener Bauch, Brust, das Gesicht oder der Genitalbereich.

Was sind die Gründe?

Eltern und andere Außenstehende vermuten hinter den Selbstverletzungen oft einen Schrei nach Liebe oder mehr Aufmerksamkeit ihrer Kinder. Das ist jedoch nur selten der Grund für Ritzen, Verbrennen & Co. Es geht den Pubertierenden vielmehr darum, ihre Gefühle und ihren Stress unter Kontrolle zu bekommen. „Es klingt vielleicht paradox, aber der Schmerzreiz scheint zu einer Entlastung und einem Gefühl der Entspannung zu führen. Messungen im Labor, aber auch Befragungen von betroffenen Jugendlichen, haben ergeben, dass nach den Verletzungen der Stresspegel im Körper insgesamt sinkt. Das sieht man zum Beispiel auch an der Herzfrequenz oder der Atmung“, erklärt Kaess.

Doch warum haben Jugendliche eigentlich so viel Stress? Objektiv betrachtet ist ihr Alltag nicht mehr durchgetaktet als der vieler anderer Menschen, auch die Herausforderungen wirken vergleichbar. Der Experte: „Jugendliche fühlen sich oft unter enormem Druck, weil zu den biologischen Veränderungen des Körpers zahlreiche andere neue Stolpersteine kommen. In der Pubertät erleben junge Frauen und Männer viele Dinge eben zum allerersten Mal und müssen sie verarbeiten. Da kommt der erste Liebeskummer zusammen mit dem Stress einer wichtigen Schul-Prüfung, auch das Verhalten auf sozialen Events wie Partys oder Familienfeiern ist für die jungen Menschen oft Neuland, was zu großer Anspannung führen kann.“

Psychotherapie

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Wie gefährlich ist selbstverletzendes Verhalten?

Auch wenn sich die meisten Jugendlichen nicht lebensgefährlich verletzen, birgt jeder Schnitt und jede Verbrennung an sich erstmal ein Risiko. „Jungen Menschen, die sich selbst verletzen und zu uns in die Klinik kommen, zeigen wir immer auch, wie sie ihre Wunden richtig versorgen. Auch wenn eine Verletzung oft nur oberflächlich ist, kann sie zu Infektionen und anderen Komplikationen führen“, erklärt Kaess. 
Heikler wird es, wenn zu dem selbstverletzenden Verhalten Drogen-Probleme kommen oder hinter dem Verhalten eine psychische Erkrankung steckt. Besonders häufig sind das Depressionen, aber auch andere Persönlichkeitsstörungen wie eine Borderline-Erkrankung. So leiden je nach Studie zwischen drei bis neun Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 an einer Depression. Man geht davon aus, dass jeder zehnte Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr bereits eine depressive Phase erlebt hat. Von der Borderline-Erkrankung sind rund fünf Prozent aller Jugendlichen betroffen. Kaess: „Beide Erkrankungen können auch gepaart sein mit Angst- oder Essstörungen sowie Drogenkonsum.“


Selbstverletzung & Selbstmord

Britische Forscher aus Oxford, Derby und Manchester haben herausgefunden, dass die Gefahr eines Selbstmords bei Jugendlichen im ersten Jahr nach einer Selbstverletzung um das 30-fache erhöht ist. Dieses Suizid-Risiko geht auch in den kommenden zehn Jahren nicht wesentlich zurück, sodass auch lange nach einer Selbstverletzung Selbstmordgefahr besteht. Aufmerksamkeit ist also wichtig, Panik aber unangebracht: Denn in absoluten Zahlen war die Suizidrate mit rund einem Prozent bei Jungen und 0,5 Prozent bei Mädchen über den gesamten Studienverlauf hinweg dennoch gering.

Was kann ich als Mutter oder Vater tun?

Wenn Sie als Eltern bei Ihrem Kind selbstzugefügte Verletzungen entdecken, heißt es: Ruhig bleiben, auch wenn das verständlicherweise schwerfällt. Machen Sie Ihrem Kind keine Vorwürfe, schreien Sie es nicht an und drohen Sie ihm schon gar nicht mit Strafen. „Wichtig ist, das Verhalten des Kindes neutral und nicht als verrückt, krank oder gar als einen bizarren Mode-Trend zu bewerten“, rät Kaess. Sagen Sie ihm ehrlich, dass Sie sich sorgen und ihm helfen möchten. Die Frage nach dem Warum macht in der Regel wenig Sinn – darauf haben viele Jugendliche keine Antwort.

Falls Ihr Kind sofort „dichtmacht“, kann auch ein persönlicher Brief oder eine E-Mail mit den richtigen Worten helfen. Bereits nach der ersten Selbstverletzung rät Kaess dazu, sich professionelle Hilfe zu holen. Die erste Anlaufstelle können der Kinderarzt, eine Erziehungsberatungsstelle oder ein Kinder- und Jugendpsychiater sein. Kaess: „Ein Profi kann einschätzen, ob dem selbstverletzenden Verhalten möglicherweise eine psychische Erkrankung zugrunde liegt, die man unbedingt behandeln sollte, damit sie sich nicht manifestiert.“ Neben diversen Medikamenten können vor allem Strategien zur besseren Affektkontrolle wie beispielsweise eine Verhaltenstherapie helfen. In schweren Fällen kann auch ein stationärer Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie nötig sein.


Professor Dr. Michael Kaess

Michael Kaess

Professor Dr.

Nach seiner Tätigkeit als geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Heidelberg, ist Professor Dr. Michael Kaess (Jahrgang 1979) seit 2017 Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern.

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