Erziehung ohne Strafen – Plädoyer für ein wertschätzendes Miteinander
Ratgeber zum Thema Erziehen ohne Strafe füllen ganze Regale und führen regelmäßig die Bestsellerlisten an. Und doch tappt früher oder später wohl jede Mutter und jeder Vater einmal in die Strafenfalle: Kinder sind Meister darin, unsere eigenen Grenzen täglich neu zu vermessen. Und wenn uns Geduld und Kraft ausgehen, folgt nicht selten eine Strafe, um die Verhältnisse wieder klarzustellen. Dabei wissen es nicht nur die Expertinnen und Experten besser: Strafen sind für die freie Entfaltung des Kindes nicht nur hinderlich, sondern häufig sogar schädlich. Das heißt jedoch nicht, dass Kinder entgrenzt aufwachsen sollen. Ein Plädoyer für einen wertschätzenden Umgang miteinander.
Warum bestrafen wir unsere Kinder?
Die kurze Antwort darauf lautet: weil wir es so gelernt haben. „Wer nicht hören will, muss fühlen“, lautete Jahrhunderte lang der gesellschaftliche Konsens. Halten sich Kinder zu Hause oder in der Schule nicht an die Regeln, müssen sie bestraft werden. Mit einem menschenwürdigen Miteinander sind Strafen in der Erziehung jedoch nicht vereinbar, sagt die auf Familienthemen spezialisierte Autorin Nora Imlau.
Wenn Erwachsene Kinder bestrafen, ist das meist ein Zeichen der Überforderung und der persönlichen Kränkung. Wir möchten, dass unsere Kinder etwas bestimmtes tun oder lassen und wenn das nicht passiert, verstehen wir es als Angriff auf uns selbst. Dabei müssen Kinder Grenzen testen, um ihren Platz zu finden. Sie sind die Leitplanken, die sie durch ihre Kindheit führen und auf das Leben in einer Gesellschaft vorbereiten.
Nicht selten enden derartige Auseinandersetzungen in Machtkämpfen zwischen dir und deinem Kind. Eine Strafe hilft deinem Kind aber nicht. Denn wahrscheinlich reizt es dich gerade über jedes Maß, weil es nicht sagen kann, was es eigentlich braucht: Aufmerksamkeit, Nähe, Verständnis.
Manche Kinder verschließen sich durch häufige Bestrafungen und werden dadurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt. Ihre Kooperationsbereitschaft sinkt. Und spätestens durch den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul und seine zahlreichen Bücher dürfte klar geworden sein, dass Kinder grundsätzlich mit ihren Eltern kooperieren wollen. Sogar vermeintlich unangemessenes Verhalten ist laut Juul Kooperation, zeigt es doch beispielsweise, dass ein Kind mit einer Situation oder einem Anspruch überfordert ist.
Jeder Zweite findet Klaps auf den Hintern in Ordnung
Auch wenn wir es heute besser wissen, ist das Strafen nicht aus dem Leben unserer Kinder verschwunden. Zwar gibt es in der Schule schon lange keine Prügelstrafe mehr und seit 20 Jahren ist im deutschen Grundgesetz das Recht auf gewaltfreie Erziehung für Kinder verankert. Doch hat eine repräsentative Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm, von UNICEF Deutschland und dem Deutschen Kinderschutzbund im Jahr 2020 gezeigt, dass noch immer jeder zweite Deutsche glaubt, ein Klaps auf den Hintern habe noch keinem Kind geschadet. Jeder Sechste hält es sogar für angebracht, ein Kind zu ohrfeigen.
Deutlich häufiger erleben Kinder jedoch verbale, psychische oder emotionale Gewalt. Manche Eltern werten ihre Kinder durch Kritik ab, schimpfen laut, wenn Ihnen ihr Verhalten nicht passt, drohen mit Fernsehverbot oder streichen die Gute-Nacht-Geschichte, weil sie ihre Zähne nicht putzen wollen. Eine weitere Form emotionaler Gewalt ist der Liebesentzug. Natürlich lieben die meisten Eltern ihre Kinder trotz eines Fehlverhaltens. Das Kind erlebt den Liebesentzug jedoch als real, fühlt sich abgelehnt und ungeliebt. Derartiges Rückzugsverhalten eines Erwachsenen färbt beispielsweise auf das Sozialverhalten des Kindes ab. Einige Menschen, die als Kind häufig mit Liebesentzug bestraft wurden, können sich in Konfliktsituationen selten anders als mit Rückzug und Schweigen retten.
Ähnliches können unsere Kinder übrigens auch in Kita und Schule erleben: Ein Kind wird vor die Tür geschickt und damit symbolisch aus dem Klassenverband ausgeschlossen, weil es nicht das gewünschte Verhalten gezeigt hat. Diese auch als Auszeiten titulierten Bestrafungen können zwar helfen, einen eskalierenden Streit abzukühlen oder andere Kinder zu schützen. Die Form der Kommunikation ist aber wichtig.
Wenn du merkst, dass du im Moment nicht angemessen reagieren kannst, teile deinem Kind mit, dass du ein bisschen allein sein musst. Wenn sich die Wogen geglättet haben, kannst du in Ruhe mit deinem Kind über eure Gefühle während des Konflikts sprechen und darüber nachdenken, wie es in Zukunft anders gehen könnte.
Was passiert im Gehirn, wenn wir strafen?
Es muss gar nicht immer der berühmte Klaps sein, um ein Kind dauerhaft zu schädigen. Jeder Schrei ist wie ein Schlag, sagen Experten und Expertinnen wie die amerikanische Hirnforscherin Naomi Eisenberger. Sie hat 2010 nachgewiesen, dass emotionaler und körperlicher Schmerz im Gehirn eng miteinander verknüpft sind und bestimmte Gehirnareale durch Schmerz dauerhaft verändert werden können. Betroffene reagieren typischerweise mit Stress, Rückzug, Aggression. „Allen Formen von Gewalt ist gemein, dass sie die Grenzen des Kindes verletzen und das Kind so lernt, keine Grenzen haben zu dürfen. Diese Kinder können kein Gespür dafür entwickeln, was Grenzen überhaupt sind“, sagt auch die Pädagogin Katharina Saalfrank in ihrem Buch „Kindheit ohne Strafen“. Kinder spüren sich nicht mehr selbst, wenn sie geschlagen oder niedergebrüllt werden. Sie hinterfragen nicht und beugen sich dem Willen des Erwachsenen. Dass Grenzen auch positiv sind, dass sie ihnen den notwendigen Halt während ihrer Kindheit geben, erfahren diese Kinder dadurch nicht.
Der Unterschied zwischen Strafe und Konsequenz
Mit einer Strafe möchtest du eine Verhaltensänderung bei deinem Kind herbeiführen. Doch Strafen in der Erziehung fußen oft auf einer abstrakten Moralvorstellung oder Erwartungshaltungen deines Umfeldes. Damit können insbesondere kleinere Kinder nichts anfangen. Einen respektvollen Umgang miteinander lernt dein Kind aus einer Bestrafung nicht. Stell dir ruhig ab und zu mal vor, wie ein Erwachsener auf deine Drohungen reagieren würde. Dein Mann hat den Abwasch nicht erledigt? Dafür darf er am Samstag nicht mit seinen Freunden zum Fußballspiel. Komische Vorstellung, oder?
Eine Alternative ist Erziehen ohne Strafen. In der Umsetzung bedeutet es, dass es logische Konsequenzen, also natürlichen Folgen, aus dem Verhalten deines Kindes resultieren. Logische Konsequenzen zielten auf eine konstruktive Konfliktlösung, zeigten deinem Kind, dass es verantwortlich ist für sein Tun, beschreibt es etwa der Familienforscher Jan-Uwe Rogge. Andere sehen in logischen Konsequenzen nur eine freundlichere Formulierung für Strafen als Erziehungsmittel. Katharina Saalfrank etwa kritisiert, dass auch bei logischen Konsequenzen die Ursache des Verhaltens, die dahintersteckende Emotion, nicht beachtet werde. Nur, wenn die Gefühle angesprochen werden, lerne dein Kind auch etwas über diese Gefühle. Es erfahre, dass Wut, Wollen, Trauer normal sind und fühle sich nicht als Person abgelehnt.
Logische Konsequenzen versuchen also nach Ansicht vieler lediglich, den Willkürfaktor zu verringern. Oder anders gesagt: Greifst du zu einer klassischen Strafe in deiner Erziehung, verknüpfst du oft völlig beliebige Dinge miteinander. Dein Kind hat seine Hausaufgaben nicht gemacht und muss dafür eine Woche lang den Müll runterbringen. Eine logische Konsequenz wäre hingegen: Dein Kind hat beim Spielen aus Wut das Spielbrett umgekippt. Dafür muss es nun alles aufräumen und wird vom aktuellen Spiel ausgeschlossen. Oder: Dein Teenie-Sohn hat über das Chatten mit den Kumpels die Mathe-Hausaufgaben nicht gemacht. Deshalb ist die Nutzung des Handys erst nach Erledigung der Hausaufgaben erlaubt. Der Nachteil solcher Methoden liegt auf der Hand: „Je schwieriger es ist, irgendein Druckmittel mit dem unerwünschten Verhalten zu verknüpfen, desto weiter wird dabei der Anspruch einer logischen Folge ausgelegt“, schreibt etwa Nora Imlau.
Wie gelingt erziehen ohne strafen?
Die größte Herausforderung für eine straffreie Erziehung sind wir selbst. Das Verhalten eines Kindes triggert unser eigenes inneres Kind: Wurden die eigenen Bedürfnisse in der Kindheit nicht gesehen, können diese unverarbeiteten Gefühle durch unsere eigenen Kinder wieder ans Licht kommen. Und zwar immer dann, wenn wir uns hilf- und machtlos fühlen angesichts des Verhaltens unserer Kinder. Es ist ratsam, herausfordernde Situationen in Ruhe zu reflektieren und sich konkrete Handlungsstrategien zu überlegen, auf die Sie in ähnlichen Situationen zurückgreifen können.
Eine Grundvoraussetzung für einen respektvollen und straffreien Erziehungsstil hat der verstorbene dänische „Familienversteher“ Jesper Juul geprägt: Wir müssen unsere Kinder als gleichwürdige Wesen wahrnehmen und ihre Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse ebenso ernst nehmen wie die der Erwachsenen. In einem solchen Menschenbild wird das Kind nicht mehr nach den Vorstellungen und Wünschen von Eltern oder der Gesellschaft geformt, sondern erhält die Möglichkeit, es selbst zu sein – und zu werden. Kinder waren für Juul von Geburt an ebenso so sozial und emotional kompetent wie Erwachsene. Eltern sollten dementsprechend Leitplanken vorgeben, Kinder aber nicht nach ihrem Bilde formen.
„Wir brauchen Erwachsene, die Kindern die Chance geben, sich zu entfalten. Man muss Grenzen setzen, aber man muss vor allem mit dem Kind mitgehen, sich mit ihm freuen, statt zu strafen oder zu belohnen“, hat auch der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt. Im Focus unterstrich er: Indem wir Kinder belehren und bewerten, ein bestimmtes Verhalten von ihnen erwarten und sie so zu formen versuchen, dass sie uns gefallen, engen wir sie in ihrer Vorstellungskraft und in ihrer Entwicklung ein. Eltern behalten trotzdem das Heft des Handels in der Hand. Gerald Hüther: „Erziehung ist keine Dressur. Auch wenn wir Menschen als einziges Lebewesen in der Lage sind, andere Lebewesen, unsere eigenen Artgenossen und vor allem unsere Kinder so zu konditionieren, dass sie sich so verhalten, wie wir uns das wünschen.“
Führen statt strafen
Was Hüther, Juul, Saalfrank und Co. meinen: Wenn wir unserer inneren Agenda folgen, ohne auf unsere Kinder zu schauen, sie nicht hören, ihnen keinen Raum geben, ihre Nöte, Vorstellungen und Wünsche zu äußern, enden wir in einer Dauerschleife aus Wutausbrüchen, Machtkämpfen und Strafen. Bei Erziehen ohne Strafen geht es nicht darum, den Kindern die Führung zu überlassen. Die gehört klar auf die Seite der Eltern. Und zur Führung gehören auch Regeln. Statt diese aber einfach zu verhängen, können sie jedoch gemeinsam beraten werden. Deine Kinder fühlen sich als wertvoller Teil der Familie und können leichter kooperieren, wenn es mal nicht nach ihrem Willen geht. Einen Teil der Regeln stellen die Eltern auf, einen Teil legen alle gemeinsam fest und einen Teil bestimmen die Kinder selbst. Je älter sie werden, desto mehr bestimmen sie selbst.
Wenn du die Herausforderung annimmst, die ausgetretenen Pfade von Erziehung zu verlassen, wirst du eine Menge über dich und deine Kinder erfahren. Erziehen ohne Strafen führt zu Beziehung, zu einem gelasseneren Alltag ohne kraftraubende Machtkämpfe und einem Pingpong aus Strafe und Trotzreaktion.
Hier findest du Hilfe
Wenn du merkst, dass du immer wieder in alte Muster verfällst, solltest du dir fachliche Unterstützung in Erziehungsfragen organisieren.
Elternschulen: In vielen Bundesländern gibt es Elternschulen, die mit Kursen, Gesprächen, Rat und Tat zur Seite stehen. Sie werden in der Regel von den Jugendämtern angeboten und sind kostenlos. Auch freie Träger der Wohlfahrtspflege und Kirchen bieten häufig kostenlose Elternschulen an.
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