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Hamburg, 12. Juli 2022. Der Finanzbedarf in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist deutlich höher als bislang vom Bundesgesundheitsministerium angenommen. Das IGES Institut hat im Auftrag der DAK-Gesundheit errechnet, dass die Finanzlücke 2023 bei 19 Milliarden Euro liegt und bis 2025 auf über 30 Milliarden Euro ansteigt. Im Fall eines wirtschaftlichen Einbruchs infolge eines Gasembargos durch Russland würde der Finanzbedarf im kommenden Jahr bereits rund 24 Milliarden Euro betragen. Der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit, Andreas Storm, fordert deshalb, den Entwurf für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) zu überarbeiten: „Weder begrenzt das Gesetz wirksam den Beitragsanstieg noch stabilisiert es langfristig die GKV-Finanzen. Das ist ein Destabilisierungsgesetz.“
Der Gesetzentwurf sollte aus Storms Sicht dringend überarbeitet werden, so dass mit Blick auf 2023 eine verlässliche Grundlage für den Schätzerkreis im Herbst dieses Jahres vorliege. Dem müsse ein zusätzlicher Gesetzentwurf für den Zeitraum ab 2024 folgen, der die GKV-Finanzen nachhaltig reformiert. „Wir brauchen einen neuen Anlauf für eine nachhaltige und dauerhafte GKV-Finanzstabilisierung“, sagte Storm.
Der Kassenchef kritisierte insbesondere den vorgesehenen Griff in die Rücklagen der Krankenkassen. Dieser hätte zur Folge, dass die Zusatzbeiträge weiter angehoben werden müssten als bislang vorgesehen. Storm rechnete vor: „Anfang dieses Jahres betrugen die Rücklagen der Kassen GKV-weit 9,9 Milliarden Euro. Anfang 2023 werden sie nach der Prognose von IGES 8,3 Milliarden Euro betragen. Schöpft man davon 4 Milliarden Euro ab, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, betragen die Rücklagen nur noch 4,3 Milliarden Euro. Dadurch drohen zahlreiche Kassen unter die Mindestrücklage zu rutschen.“ Diese Reserve ist gesetzlich vorgesehen und muss 20 Prozent einer Monatsausgabe betragen. Dies würde GKV-weit im nächsten Jahr nach IGES-Prognose rund 5 Milliarden Euro ausmachen. Die Mindestrücklage dient dazu, unvorhergesehene Ausgaben abzupuffern.
„Dieser Rücklagenabbau destabilisiert das Gesamtsystem,“ bilanziert Storm. „Hinzu kommt, dass eine Unterschreitung der Mindestrücklage zu einer Zeit droht, in der die Kassen hohe Ausgabenrisiken haben.“
Darlehen für die GKV sind „fiskalpolitischer Zynismus“
Im Entwurf des GKV-FinStG sind Finanzierungsmaßnahmen vorgesehen, mit denen laut IGES ein Finanzierungsbedarf von 13,4 Milliarden Euro im kommenden Jahr gedeckt wäre. Die verbleibende Finanzierungslücke soll durch eine Beitragssatzanhebung gedeckt werden. Diese würde sich auf 0,4 Beitragssatzpunkte belaufen. Dies wäre bereits mehr als von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach in seiner Pressekonferenz zur Vorstellung der Eckpunkte des Gesetzentwurfes mit 0,3 Prozentpunkten angekündigt. Laut IGES-Analyse wächst der Finanzierungsbedarf in den folgenden Jahren jedoch weiter deutlich an. Die vorgesehenen Finanzierungsmaßnahmen decken diesen Finanzierungsbedarf nur zu einem kleinen Teil: etwa 2,7 Milliarden Euro im Jahr 2024 und etwa 1,5 Milliarden Euro im Jahr 2025. Der größere Teil des Finanzbedarfs bleibt ungedeckt. Diese Lücken können nicht erneut größtenteils die Beitragszahler schließen, da die Beitragssteigerungen in den Sozialsystemen – Krankenkassenbeiträge, Pflege und Arbeitslosenversicherung zusammengenommen – bereits im kommenden Jahr an einen Prozentpunkt heranreichen.
„Minister Lauterbach hat strukturelle Reformbedarfe in der GKV festgestellt, reagiert darauf aber zum überwiegenden Teil mit Einmalmaßnahmen,“ sagte Storm. „Die Rücklagen der Krankenkassen und die Liquiditätsreserve im Gesundheitsfonds kann man nur einmal ausgeben.“ Völlig unverständlich sei schließlich, dass die Finanzlücke teilweise mit Darlehen geschlossen werden soll. „Da das Darlehen bis spätestens 2026 zurückgezahlt werden muss, werden hier die Probleme in die Zukunft verschoben“, sagte Storm. „Finanzlücken im Sozialsystem mit Darlehen schließen zu wollen, ist fiskalpolitischer Zynismus.“
Alternativen für eine nachhaltige Stabilisierung
Als Alternativen, die eine strukturelle Wirkung entfalten und die GKV-Finanzen langfristig stabilisieren würden, nannte Storm kostendeckende Beiträge für ALG-II-Beziehende, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, sowie eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel, die schon der GKV-Spitzenverband vorgeschlagen hatte. „Bei beiden Maßnahmen handelt es sich um strukturelle Reformen, die eine mittel- bis langfristige Wirkung haben“, sagte Storm. Darüber hinaus hatten in jüngster Zeit führende Vertreter der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bei zeitgleicher Anhebung der Versicherungspflichtgrenze ins Gespräch gebracht. Vorgeschlagen wurde eine Anhebung auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung
Erhebliche Risiken eines Gasembargos
Das IGES Institut hat für seine Berechnungen zwei Szenarien zugrunde gelegt: In einem Basisszenario der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das sich an aktuellen Einschätzungen der Bundesregierung und führender Wirtschaftsforschungsinstitute orientiert, könnte der Finanzbedarf bis zum Jahr 2025 auf 30,2 Milliarden Euro steigen. Im Risikoszenario einer Rezession könnte die Finanzlücke bis 2025 sogar 35,6 Milliarden Euro betragen. Dieses Szenario geht von einem umfassenden Lieferstopp für russisches Erdgas und Erdöl aus. Die Folge wäre eine Rezession in Deutschland im Jahr 2023 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,2 Prozent gegenüber einem Plus von 2,5 Prozent im Basisszenario. Durch das abgeschwächte Wachstum und der damit verbundenen Wirkung auf den Arbeitsmarkt würde der Finanzierungsbedarf der GKV im Jahr 2023 und den Folgejahren um jeweils rund fünf Milliarden Euro höher ausfallen.
„Fortgesetzte hohe Ausgabenzuwächse und eine gebremste wirtschaftliche Erholung lassen die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben der GKV weiter aufgehen“, bilanziert Dr. Martin Albrecht, Geschäftsführer und Bereichsleiter Gesundheitspolitik am IGES Institut. Das gelte schon für das IGES-Basisszenario, aber noch mehr für das Risikoszenario eines Gaslieferstopps. „Umso mehr sind strukturelle Maßnahmen gefragt, die das GKV-Finanzsystem dauerhaft stabilisieren“, so Albrecht.