Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen in Baden-Württemberg bleiben auf hohem Niveau
Stuttgart, 17. Januar 2024. Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg stabilisieren sich auf einem hohen Niveau. Nach Anstiegen seit der Corona-Pandemie gab es 2022 im Vergleich zu 2021 leichte Rückgänge in den ambulanten und stationären Behandlungszahlen. Trotzdem ist die Inanspruchnahme bei jugendlichen Mädchen immer noch höher als vor der Corona-Pandemie. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse des baden-württembergischen Kinder- und Jugendreports der DAK-Gesundheit. Die Daten zeigen, dass weiterhin jugendliche Mädchen am stärksten von Depressionen, Angststörungen und Essstörungen betroffen sind. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ergebnisse geben Experten keine Entwarnung. DAK-Landeschef Euerle fordert mehr Präventionsinitiativen zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Für die aktuelle DAK-Sonderanalyse im Rahmen des baden-württembergischen Kinder- und Jugendreports untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten von rund 87.300 Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg versichert sind. Analysiert wurden anonymisierte Versichertendaten aus den Jahren 2017 bis 2022. Es ist die erste umfassende Analyse von ambulanten und stationären Behandlungen für das vergangene Jahr.
„Die aktuellen Ergebnisse sind beunruhigend. Ein leichter Rückgang zum Vorjahr bedeutet nicht, dass die Welt jetzt wieder in Ordnung ist. Im Gegenteil: Das Seelenleiden vieler Kinder und Jugendlicher verfestigt sich“, sagt Siegfried Euerle, Landeschef der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg. „Vor dem Hintergrund der aktuellen Haushaltsplanungen droht vielen präventiven und pädagogischen Angeboten der Rotstift. So weit darf es nicht kommen, denn wir dürfen an der psychischen Gesundheit unserer Kinder nicht sparen. Im Gegenteil, wir brauchen mehr Präventionsinitiativen in Schulen, Vereinen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Denn es geht um die Zukunft unserer Kinder in Baden-Württemberg.“
Stabilisierung der Behandlungszahlen auf hohem Niveau
Die DAK-Auswertung zeigt, dass die Behandlungszahlen bei psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen 2022 in Baden-Württemberg im Vergleich zu 2021 insgesamt leicht rückläufig sind. So erhielten 2022 acht Prozent weniger jugendliche Mädchen eine Neu-Diagnose in diesem Bereich als 2021. Bei Jungen steht ebenfalls ein Minus von zwei Prozent. Mit Blick auf die Situation vor der Corona-Pandemie lagen die Behandlungszahlen im vergangenen Jahr weiterhin auf einem hohen Niveau – insbesondere bei jugendlichen Mädchen. Hier gab es 2022 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ein Plus von sieben Prozent. Insgesamt wurde 2022 bei rund 14.900 jugendlichen Mädchen aus Baden-Württemberg eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung neu diagnostiziert.
„Die aktuellen Daten zeigen ein heterogenes Bild“, sagt Prof. Dr. Jan Steffen Jürgensen, Vorstandschef des Klinikum Stuttgart. „Einige Negativtrends sind gebrochen. Wir sehen eine Stabilisierung der Neuerkrankungen an psychischen Leiden auf einem erhöhten Niveau. Von einer Normalisierung der Lage kann leider noch keine Rede sein. Es gibt noch keinen Grund zur Entwarnung. Auch wenn einige Kennzahlen rückläufig sind: Die Polykrise hat besonders die seelische Gesundheit junger Menschen strapaziert.“
Jugendliche Mädchen leiden besonders
Die aktuelle Analyse des Kinder- und Jugendreport für Baden-Württemberg belegt, dass vor allem jugendliche Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren mit Depressionen, Angststörungen und Essstörungen in ärztlicher Behandlung sind. Zwar ging die Neuerkrankungsrate bei Depressionen 2022 um 14 Prozent im Vergleich zu 2021 zurück. Doch im Vergleich mit 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, steht ein Plus von 32 Prozent. Bei Ängsten und Essstörungen sind die Trends in Baden-Württemberg noch ausgeprägter. Im Vergleich zu 2021 erkrankten rund sieben Prozent mehr jugendliche Mädchen 2022 neu an Angststörungen – im Vergleich zu 2019 waren es aber 46 Prozent mehr. Bei Essstörungen gingen 2022 die Neuerkrankungen im Vergleich zum Vorjahr um 29 Prozent zurück. Mit Blick auf 2019 stiegen die Zahlen aber um 53 Prozent an.
„Die Ergebnisse zeigen ein uneinheitliches Bild“, so Prof. Dr. Jürgensen. „Depressionen und Angststörungen werden immer häufiger gemeinsam diagnostiziert, was die Therapie komplexer macht. Wir sehen zudem einen Trend zur Chronifizierung – möglicherweise auch durch unzureichenden Therapiekapazitäten der letzten Jahre mit zu langen Wartezeiten für junge Patienten in frühen, noch besser behandelbaren Krankheitsphasen.“ Die Politik in Baden-Württemberg habe konsequent reagiert und die Versorgungskapazitäten in den letzten zwei Jahren spürbar erhöht, so Jürgensen. „Allein im Klinikum Stuttgart mit Deutschland größter Kinderklinik konnten wir die Behandlungsmöglichkeiten mit Förderung der Landespolitik deutlich ausbauen.“ Vorrang vor klinischen Therapieangeboten als letzter Option müssten aber vorbeugende Ansätze haben. Die Förderung von Bildung, intakten sozialen Bindungen und gute Entwicklungsperspektiven sieht er als hochwirksame Ansätze.
Jungen seltener in Behandlung als Mädchen
Die baden-württembergische DAK-Analyse verdeutlicht, dass Jungen im Jugendalter seltener aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Verhaltensstörungen behandelt werden. So erhielten 2022 drei Prozent weniger der 15- bis 17-jährigen Jungen eine Neudiagnose in diesem Bereich als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Bei jugendlichen Mädchen in Baden-Württemberg steht hingegen insgesamt ein Plus von sieben Prozent.
„Während Jungen bei psychischen Belastungssituationen eher externalisierend reagieren, das heißt Sozialverhaltensstörungen wie Aggressivität, Impulsivität und oppositionelles Verhalten zeigen, neigen Mädchen eher zu internalisierenden Störungen wie Rückzug, Angst bis hin zu depressiven Verstimmungen und Essstörungen. Externalisierende Störungen werden oft nicht als psychische Störungen gewertet, sondern als Sozialverhaltensstörungen. Sie sind somit wahrscheinlich unterdiagnostiziert“, sagt Prof. Jürgensen.
Die DAK-Gesundheit ist mit 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands und engagiert sich besonders für Kinder- und Jugendgesundheit. Insgesamt sind bei der Krankenkasse in Baden-Württemberg rund 630.000 Menschen versichert.
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